I. Kachelmann und Co.
In der öffentlichen Wahrnehmung und Darstellung war Jörg Kachelmann wahlweise eine suspekte Gestalt, der alles zuzutrauen ist, oder Opfer eines weiblichen Rachefeldzuges. Dabei war der Wettermoderator weder der erste noch der einzige Prominente, der mit den Mechanismen eines Medienspektakels Bekanntschaft gemacht hat. 2008 wurde Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel vor laufenden Kameras wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung verhaftet. 2009 gab es bereits im Rahmen des Ermittlungsverfahrens eine Menge an staatlichen Auskünften über den damaligen Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss, dem der Besitz von kinderpornografischem Material vorgeworfen wurde. Im gleichen Jahr wurde die No-Angel-Sängerin Nadja Benaissa vor einem Konzert verhaftet, weil sie trotz bekannter HIV-Infektion ungeschützten Sex gehabt haben soll. Alle drei wurden von der Justiz verurteilt.
Vorverurteilt waren Sie jedoch schon Medien und der Öffentlichkeit. Die Strafprozess schienen umso mehr zur Unterhaltung geeignet, je tiefer der gesellschaftliche Fall des Beschuldigten / Angeklagten und je intimer die Details, die an die Öffentlichkeit drangen.
Begann in den 1990er Jahren die bis zur Peinlichkeit reichende Selbst- und Fremdentblößung damals in nachmittäglichen sogenannten „Talk-Shows“ und kamerabestückten Containern, hat dieses Schauspiel derweil das Umfeld des Justizwesens erreicht.
Während Richter in der Hauptverhandlung unter Anwendung der Strafprozessordnung versuchen herauszufinden, was materielle Wahrheit genannt wird, bearbeiten Staatsanwaltschaft und Verteidigung längst noch ein anderes Gebiet außerhalb der Hauptverhandlung. Dabei soll durch den geschickten Umgang mit Informationen der Weg zum Sieg geebnet werden. Das Procedere, das dazu dient, insbesondere Zeugen und Sachverständigenzeugen unglaubwürdig erscheinen zu lassen, ist dem amerikanischen Strafprozessrecht bekannt, dem deutschen Strafprozessrecht jedoch aus gutem Grund eigentlich fremd. Insoweit hätten viele Prozessbeteiligte jene Informationen, die sie heutzutage der Öffentlichkeit preisgeben, vor Jahren noch mit dem Verweis auf ein laufendes Verfahren beharrlich verweigert.
II. Unschuldsvermutung
In einer Demokratie muss Justiz transparent sein. Jedoch gibt es rechtsstaatliche Grenzen für die Informationspolitik der Prozessbeteiligten.
Eine elementare Grenze ist die Unschuldsvermutung. Ein Verdächtigter gilt so lange als unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt worden ist. Dieser unverrückbare Grundsatz ist nicht nur Basis in einem modernen Rechtsstaat, sondern darüber hinaus eine wichtige kulturelle Errungenschaft. Demgemäß breit ist auch die Normierung der Unschuldsvermutung in unterschiedlichen Rechtsmaterien.
So findet sie sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, im internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, im Statut des Internationalen Jugoslawien- Tribunals, im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, im EU- Vertrag und in der Europäischen sowie der Amerikanischen Menschenrechtskonvention. Im Grundgesetz ist die Unschuldsvermutung dogmatisch in der Menschenwürdegarantie und im Rechtsstaatsprinzip einzuordnen. Überdies enthalten manche Landesverfassungen (z.B. Brandenburg, Hessen) eine ausdrückliche Garantie der Unschuldsvermutung. Die Normierung in den jeweiligen Landesverfassungen und die nahe Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 Absatz 1 Grundgesetz machen deutlich, dass die Unschuldsvermutung nicht allein eine strafprozessuale Gewährleistung darstellt. Vielmehr will Sie die Person des Tatverdächtigen vor dem sozialethischen Unwerturteil schützen, welches einem richterlichem Schuldspruch innewohnt (so Kühl, FS Müller- Dietz 2001, S. 415 m.w.N), sodass die Unschuldsvermutung letztendlich die strafprozessuale Konkretisierung der Menschenwürde ist. Darüber hinaus schützt sie nicht nur den Menschen, der unter Verdacht geraten ist, sondern die Gesellschaft als Ganzes, indem sie nicht mehr kontrollierbare, willkürliche und nicht selten subversive Beschuldigungen zumindest begrenzt oder ggf. verhindert. Dadurch wird die gesellschaftliche Debatte zivilisiert und der soziale Zusammenhalt gestärkt ( Boehme-Neßler, StraFo 2010, 456-461). Für die Gesellschaft ist demnach die Unschuldsvermutung von enormer Bedeutung.
III. Rechtspraxis
Für die Rechtspraxis bedeutet dies Folgendes: Die Unschuldsvermutung gilt für alle Phasen des Strafverfahrens und nicht nur für die Hauptverhandlung. Das heißt, sie gilt schon dann, wo Polizei und Staatsanwaltschaft auf Grund eines Anfangsverdacht gegen einen Beschuldigten ermitteln. Wenn zu diesem Zeitpunkt bereits dessen voller Name genannt wird, ist die Unschuldsvermutung gefährdet. Diese ist für sich allein geeignet, das Ansehen der Person zu schädigen. Umso mehr müssen die Beteiligten in dieser Phase des Strafverfahrens sensibel mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit umgehen.
Unter dem Schirm der Unschuldsvermutung ist die Unterscheidung zwischen Verdacht und bewiesener Tat immanent. Wer verdächtig ist, gilt im Rahmen der Vermutung noch als unschuldig. Erst wer rechtskräftig verurteilt worden ist, ist ein Täter. Dies ist die verfassungsrechtliche Richtschnur für alle Beteiligten des Strafverfahrens, insbesondere im Umgang mit den Medien. Das heißt nicht, dass sie schweigen sollen, sondern vielmehr Folgendes: Sie dürfen Fragen der Öffentlichkeit beantworten und Verdachtsmomente ausbreiten. Dabei muss jedoch von allen Beteiligten mit Nachdruck betont werden, dass es sich um Beschuldigungen und nicht um bewiesene Tatsachen handelt. Die Informationspolitik der Prozessbeteiligten und hier insbesondere die der Staatsanwaltschaft, darf keiner öffentlichen Vorverurteilung eines Verdächtigten durch die Medien Vorschub leisten. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass die öffentliche Berichterstattung, die im Gegenteil zu den Beteiligten nicht verfassungsrechtlich und prozessrechtlich diszipliniert ist, eine gesellschaftliche Prangerwirkung mit unabsehbaren Folgen haben kann.
IV. Beschädigte Rechtskultur
Überdies fördert eine forsche mediale Informationspolitik der Prozessbeteiligten die Beschädigung der Rechtskultur, insbesondere dann, wenn die Rechtspraxis den Regeln der Massenmedien mehr zu gehorchen scheint, als denen des Rechts. Im Fall Kachelmann wurde die Praxis eines sachorientierten juristischen Umgangs zugunsten einer voyeuristische, Wünsche befriedigenden Medienschlacht um Geliebte und deren Glaubwürdigkeit. Die Sachverständigen demontierten sich gegenseitig und es gab befremdlich anmutende Aspekte, wie das Interview-Honorar einer Zeugin.
Die oben erwähnte, gesellschaftliche Prangerwirkung wurde auch dadurch deutlich, dass die Staatsanwaltschaft im Fall Kachelmann die Verurteilung eines minderschweren Falls forderte, und zwar nicht, weil die Tat nach Ansicht der Staatsanwaltschaft als minderschwerer Fall einzustufen war, sondern weil Kachelmanns Privatleben durch die Berichterstattung der Medien in der Öffentlichkeit bereits beschädigt sei. Dabei hatte doch gerade die Staatsanwaltschaft mit ihrer offensiven Informationspolitik, ob gewollt oder nicht, solch eine Berichterstattung erst möglich gemacht. Durch die Öffentlichkeitsarbeit wurde die Rechtskultur dahingehend beschädigt, dass die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung für ein mediales Spektakel geopfert wurde.
Ungeachtet rechtlicher Bedenken kann der Fall Kachelmann über die Jurisprudenz hinaus weit reichende Folgen nach sich ziehen. Die Akzeptanz in der Gesellschaft für verfassungsrechtlich verankerte Maximen des „fairen Verfahrens“ schwindet. Dann wäre nicht nur die Unschuldsvermutung als unabdingbarer Bestandteil eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens in Gefahr, sondern die Rechtskultur in Gänze.